Die Endstationen der »Endlösung« wurden zu Ikonen der Grausamkeit – Auschwitz,
Babi-Yar, Bergen-Belsen und andere. Dorthin führten viele Wege über mehrere
Zwischenstationen aus meist wenig bekannten »Umschlagplätzen« und Abfahrtsorten.
Um aber das Phänomen Shoah zu begreifen, muss auch die qualvolle Geschichte der
Juden vor der Abreise, vor der Deportation und vor der Ermordung erzählt werden:
Wie das NS-Regime die Juden in Parias verwandelte und dafür die Zustimmung oder
gar die Kooperation der Mehrheit der Nicht-Juden gewinnen konnte.
Diese Vorgeschichte der »Endlösung« war für die deutschen Juden die längste – sie
begann nicht erst mit »Anschluss« und Krieg, sondern spätestens mit der Machtübernahme
der Nazis am 30. Januar 1933. Es ist die Geschichte der gezielten »Ausschaltung«
und »Entfernung« der Juden, die zum sozialen Tod einerseits, oder in die – im Nachhinein
als Rettung empfundene – erzwungene Auswanderung führte, noch bevor
es für die im Reichsgebiet Zurückgebliebenen zur Deportation in den Tod kam.
»Werder ist ein kleines Städtchen«, schrieb Erich Kästner 1932, in dem »der Berliner
Frühling stattfindet«, das heißt: die Berliner einen »Grund zum Trinken« fanden. Nicht
nur im Vergleich zum benachbarten Berlin war auch die jüdische Bevölkerung dieses
Städtchens unbedeutend. Und trotzdem enthält die Geschichte der Juden in Werder
alle Facetten der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland – das geht aus der Lektüre
des vorliegenden Gedenkbuchs deutlich hervor: Es ging um »Volljuden«, »Mischlinge«
(»1. und 2. Grades«), um »Arisierung« und um die vom Staat betriebene »fiskalische
Ausplünderung«, um die in aller Öffentlichkeit durchgeführten Versteigerungen der
Habseligkeiten der vertriebenen und deportierten Juden, um die passive und aktive
Teilnahme der Nicht-Juden an Verfolgung und Pogrom, auch um die durch »Kindertransport
« und »Untertauchen« Geretteten (und ihre Helfer), um die nach Warschau,
Auschwitz, Sobibór, Dora-Mittelbau usw. Deportierten, und nicht zuletzt um den
Versuch, diesen Abschnitt der eigenen Geschichte zu verdrängen und zu vergessen.
Um die Mauer des Schweigens und Unwissens zu Fall zu bringen, musste man
nicht nur in Werder lange auf aufrechte und mutige Menschen warten. Die dritte
Generation nach dem »Dritten Reich« wagt Fragen zu stellen, die ihre Vorgänger
meist verdrängt und verschwiegen hatten. Es ist die Generation der »Stolpersteine«,
der Steine, die auch für die Erforschung des Schicksal der Juden Werders die Auslöser
waren. Diese gründliche wie umfangreiche Aufarbeitung der Geschichte des jüdischen
Schicksals in Werder ist alles andere als »Nestbeschmutzung«. Spätestens seit dem
Fall der Mauer begreift man auch in Deutschland, dass das Ziel dieser historischen
Aufarbeitung nicht nur ist, zu erfahren »wie es eigentlich gewesen« (Ranke), sondern
auch eine moralische Pflicht des deutschen Kollektivs zu erfüllen, die im Endeffekt
die Deutschen auch den Respekt der Welt wiedergewinnen lässt.
»Wir sind das Volk« – das war die Antwort der Randalierer in einer jüdischen
Wohnung in Werder kurz vor der »Reichspogromnacht« (S. 25). Diese Antwort auf
die Frage des jüdischen Opfers des Überfalls macht nachdenklich: Sie zeigt nicht nur,
wie mehrdeutig und leicht zu missbrauchen populäre Parolen sind (siehe: PEGIDADemos),
sondern was man sich auch sonst unter dem »Volk« vorstellen kann oder soll.
Auch heute, mehr als 75 Jahre danach.
Moshe Zimmermann
Professor emeritus für deutsche Geschichte
bis 2012 Direktor des Richard-Koebner-Center
an der Hebräischen Universität Jerusalem